Schönheit zwischen Dunkelheit und Schrecken

Ein Besuch im Atelier des Lichtgrafikers Kurt Wendlandt

Dieses Interview mit dem deutschen Maler, Illustrator und Lichtgrafiker Kurt Wendlandt wurde ursprünglich 1970 in der Zeitschrift „profile“ veröffentlicht. Kurt Wendlandt wird darin von Elma Reiste zu seinen Lichtgrafiken befragt. Wendlandt erklärt seine Techniken und spricht über die philosophischen Konzepte, denen er mit seinen Lichtgrafiken (Fotogramme) Gestalt zu geben versucht.

Nichts mehr von Großstadt. Der ungepflasterte Weg endet vor dem Naturschutzgebiet, wo sich, wie ich später hören sollte, noch heute die Füchse »Gute Nacht« sagen. Der langgestreckte Stahlbetonbau, weiß und grau, mit seiner dem Garten zugekehrten Glaswand ließ nicht gerade darauf schließen, daß ich in Kürze mit einer »Hundebrüstigen Djinija«, einem »Dämonenzirkus« oder einem »Engel aus der Apokalypse« konfrontiert werden würde. 

Ein leger gekleideter Fünfziger, mittelgroß, mit abwartenden braunen Augen öffnet: Kurt Wendlandt. Keine Allüren, keine Konvention. Ich spüre sofort, daß jeder die Chance hat, als alter Bekannter behandelt zu werden. 

Im Atelier schwingt sich eine Wendeltreppe zur Bücher­galerie empor und macht deutlich, daß die Höhe des 70-qm­ Raumes die 4-m-Grenze überschreitet. Ein paar erlesene Möbel kontrastieren mit der Kargheit geweißter Wände und weißer Vorhänge. Sonst nur einfache Sitzmöbel, z. T. mit Bücherstapeln belegt. Offenbar hat es der Wohnteil nicht leicht, sich gegen die Ausdehnungstendenzen des Arbeits­traktes zu behaupten. Hier grau gestrichene Platten auf Böcken – dort Pinsel, Farbbüchsen, Papier. Auch im angren­zenden Arbeitsraum eine Fülle von Handwerkszeug und Arbeitsmaterial. Die alles in allem peinliche Ordnung erin­nert mich an ein wissenschaftliches Labor. Ich mache aus meiner Überraschung kein Hehl. Die Antwort kommt rasch:

»Glauben Sie, daß ein Komponist besser arbeiten kann, wenn er zuvor die Tastatur seines Flügels durcheinander gebracht hat?• Aber gleich darauf augenzwinkernd: • Was meinen Sie, wie es hier aussieht, wenn ich bei der Arbeit bin! Dann hängen alle Saiten aus dem Klavier!«

In Berlin aufgewachsen – Kurt Wendlandt besuchte eine Zeitlang zusammen mit dem einige Jahre älteren Sohn Alfred Döblins ein Gymnasium am Alexanderplatz – schwingt, obzwar nur gelegentlich Dialekt andeutend, doch der trockene Berliner Ton mit. 

 Auf dem schimmernden Braun des holländischen Barock­schranks eine moderne Plastik. Sie stammt von einem brasilianischen Bildhauer. Vor einiger Zeit von der Ford Foundation nach Berlin geholt, war er davon fasziniert, man­che Struktur seiner Plastiken in den Lichtgrafiken Wend­landts wiederzufinden. So tauschten die Künstler Arbeiten aus.

Die Wände sind bedeckt mit schwarzweißen und farbigen Bildern. An der nur durch Stahlträger geteilten Glaswand farbenglühende Collagen. Filmteile sind mit Folien und Plexi­glas verklebt, z. T. so, daß auf ein isolierendes Rahmen­geviert verzichtet wurde und die Kompositionen in unregel­mäßigen Umrissen vor Büschen und Bäumen hängen, die bei wechselndem Standpunkt des Betrachters schemenhafte Bewegungen im Bildinnern verursachen. Die meisten Bilder verraten sofort, daß hier eine radikal neue Technik, ver­bunden mit höchster künstlerischer Sensibilität, am Werk ist. Hier wird Materie nicht mehr dazu benutzt, Licht und Raum vorzutäuschen, sie selbst wird transparent, ihre Struktur sichtbar gemacht. Einen Ausspruch von Franz Marc hat Kurt Wendlandt als Motto über seine Arbeit gesetzt: »Die alte Weltanschauung hat sich In eine Weltdurchschauung verwandelt.« »Transparenz•, »Zufall« und »Verwandlung• sind offenbar Schlüsselworte in Wendlandts technischem Vokabular. Er läßt keinen Zweifel daran, daß ihm auch ihre philosophische Bedeutung klargeworden ist. •Die Trans­parenz öffnet die erstarrte Form, läßt das früh Gewußte, seit langem Vergessene herein, aber auch das uns zufal­lende Unbekannte, das nun mit Namen benannt, verwandelt und in neue Form gebannt werden kann.•

Phantastisch ist der Gedanke, daß sich mit Hilfe der viel­geschmähten »seelenlosen« Technik Bilder von solch im­materieller Schönheit schaffen lassen! Und langsam begreife ich, warum ein in allen konventionellen bildnerischen Tech­niken beheimateter und mit deutschen und ausländischen Preisen ausgezeichneter Künstler die Palette mit dem Ver­größerungsapparat, Lithostein und Kupferplatte mit Repro­film, Terpentin und Leinöl mit Entwickler und Fixiersalz ver­tauscht hat und in der muffigen Enge eines als Dunkelkam­mer ausgebauten Kellers versucht, das »Mutabor« der Alchimisten ins anbrechende dritte Jahrtausend hinüberzu­retten. 

Bevor ich danach fragen kann, wie denn nun eine Licht­grafik entsteht, betritt die Frau des Künstlers den Raum. Auch bei ihr eine Freundlichkeit ohne Vorbehalte. Während wir beim Tee sitzen und die diaphanen Collagen vor der Glaswand mit der wandernden Sonne Farben und Valeurs verändern, erfahre ich, daß sich das Ehepaar auf der »Hochschule für bildende Künste« in Berlin kennenlernte.

»Ja, und Papa Michel, damals Professor für Lithografie und Radierung, hat neben der künstlerischen sofort auch die menschliche Situation erkannt.« Bevor Wendlandt seine Geschichte beginnt, untersucht er ein besonders dünnes Stück Blätterteig auf seine Lichtdurchlässigkeit. Wenn, wie ich hörte, Kartoffelschalen sich in »Luzifer«, Leim sich in »Daphne• verwandelte, warum soll nicht auch Blätterteig den Abenteuerbesessenen dazu überreden können, eine »Leda« zu entdecken oder den »Heiligen Antonius•. Und während Wendlandts bildnerische Fantasie nach vorn denkt, schweift seine Erinnerung zurück. » Früher hatte ich viele Vorbilder – allzuviele. Wenn ich in der Werkstatt bei Papa Michel saß und eine Zeichnung auf die Kupferplatte oder den Lithostein übertrug, kam er herbei und sagte in seinem sächsischen Dialekt: ,Nu, in welchem Jahrhundert is’n der Wendlandt jetzt angegommen?, Er beugte sich tief über meine Arbeit, schob die Brille in die Stirn und konstatierte: ,Aha, den Dürer hat er schon vergessen, nu is er bereits im 17. Jahr­hundert und nimmt den Rembrandt aus. Da wird’s ja Zeit, daß wir mit ,Vernis mou, (Radiertechnik) anfangen, denn bald wird er’n Goya beim Wickel haben., Als ich einmal mit meiner Frau, damals noch meine Kommilitonin, in der Werk­statt saß und arbeitete, kam er wieder herbei, legte rechts und links die Arme auf unsere Schultern und sagte, unter der hochgeschobenen Brille abwechselnd aufs linke und rechte Blatt blickend – ich war unterdessen tatsächlich bei Goya gelandet – ,Und wann wird geheiratet?,« 

Als Primaner hatte Wendlandt noch die Anerkennung von Käthe Kollwitz gefunden, jedoch nicht mehr ihre Förderung. Damals war sie bereits aus der Akademie ausgeschlossen worden und lebte verfemt und zurückgezogen in einem Arbeiterbezirk des Nordostens, wo ihr Mann seine Arzt­praxis ausübte. Schon nach wenigen Semestern bot Prof. Hans Meid dem Kunststudenten ein Meisteratelier an. Nach dem Krieg hielt Wendlandt die fünfköpfige Familie mit dem Kopieren alter Meister über Wasser, bevor er als Illustrator zu arbeiten begann, übrigens häufig zusammen mit seiner Frau, mit der er auch Kinderbuchtexte verfaßte und später eine Dozentur für grafische Gestaltung an der LUFA (ehem. TU) teilte. »Ohne meine Frau gäbe es meine Lichtgrafik nicht. In der Zeit der ersten Experimente, die viel Geld verschlan­gen und nichts einbrachten, ermutigte sie mich zum Weiter­machen und beruhigte mein schlechtes Gewissen, wenn ich die Brotarbeit vernachlässigte.« 

Wendlandts Vielseitigkeit verwirrt zuerst, läßt dann aber, abgesehen von der Vielfalt der Sujets, eine Komplexität erkennen, die vom Augenerlebnis zur Abstraktion reicht. Eine unübersehbare Fülle von Illustrationen zu Bilder-, Kinder-, Jugendbüchern, zur Belletristik. Und immer wieder Land­schaften: aus Nordafrika, Italien, Jugoslawien, Holland, von den Inseln des Mittelmeers und den Kanarischen Inseln. Fast immer ist, zuweilen mit nur wenigen Strichen, der Wesenskern einer Gegend bloßgelegt, wobei aber nicht nur ihr stilisiertes Skelett, sondern gleichzeitig auch der ganze sinnenhafte Reiz ihrer Landschaftshaut gegeben wird. »Nach langjährigen Versuchen scheint es mir jetzt zu gelingen, diesen Abstraktionsprozeß unmittelbar vor der Natur ablau­fen zu lassen, zeitweilig mit dem Rücken zum Objekt und fast immer den ausgesuchten Ort erst einmal tagelang um­wandernd und einkreisend. « 

Ein geradezu beängstigender Fleiß läßt Mappen und Schränke überquellen, obschon während des Krieges fast alle Ölbilder, Zeichnungen, Pastelle, Aquarelle und alle Kupfer­platten verloren gingen. 

Um sich auf die Illustrierung des »Lederstrumpf« vorzu­bereiten, machte Wendlandt z. B. an tausend Studien von Waffen, Kleidung, Schmuck und Gerätschaften der nord­amerikanischen Indianer. Den Text seines neuesten Bilder­buchs »Die drei Königreiche« hat er siebenmal überarbeitet. Der Stoff zu diesem Bilderbuch hat sich aus dem Studium der Goetheschen Farbenlehre entwickelt. Die Könige eines jeden der drei Farbreiche glauben, einzig und allein die Farbe ihres Reiches sei die schönste und beste der ganzen Welt, bis sie lernen, daß sie ohne die anderen Farben nicht leben können. Verleger aus aller Welt interessieren sich, ebenso wie die UNESCO, für dieses völkerverbindende Thema, dessen verborgene Hintergründigkeit die prächtige Farbigkeit der lustigen und dramatischen Bilder durchleuch­tet. » Hoffen wir, daß die 70er Jahre eines mehr ins Bewußt­sein rücken: Toleranz allein ist zu wenig. Das Anderssein muß als Bereicherung, ja, als Medizin erlebt und erkannt werden.« Aber ich muß mich losreißen vom Märchenerzählen, wenn ich auch neugierig bin zu erfahren, ob es König Feuer­hand gelingen wird, Wunderpflanzen aus dem neugegrün­deten Grünland zu rauben und ob Purpurinchen den ein­gefrorenen blauen Großvater auftauen kann. Ich muß dem Lichtgrafiker zu Leibe rücken, um endlich mehr über seine Technik zu erfahren. 

Wendlandt hat keine Angst, Berufsgeheimnisse zu verraten. Im Katalog zu der vom Goethe-Institut São Paulo, veranstal­teten Wanderausstellung von über 70 seiner Lichtgrafiken und diaphanen Grafiken durch fünf brasilianische Städte schreibt er selbst über seine Arbeit: »Ausgangsmaterial für meine Lichtgrafik kann jeder mehr oder weniger durchsich­tige Stoff sein, auf Glas oder andere transparente Unter­lagen montiert, meist in der Größe 6 x 9 cm, und dann mittels des Vergrößerungsapparates auf Fotopapier kopiert. Die Kamera bleibt aus dem Spiel, im Gegensatz zur Foto­grafik, in der Realfotos durch fototechnische Mittel verfrem­det werden. Dem ersten Abzug folgen gewöhnlich weitere, wobei das erste Resultat durch viele Möglichkeiten ver­ändert werden kann (Doppelbelichtungen, Zweitnegative in verschiedenen Größen, Unschärfe und Gradation, Verschie­ben des Papiers während des Belichtens, stufenweises Drehen der Blende, Nachbelichten mit Taschenlampe usw.). Besonders häufig verwende ich die Positivsolarisation. Sie macht, intuitiv gehandhabt, das Blatt zu einem nicht wieder­holbaren Unicat, kann jedoch unter Kontrolle gebracht werden, wenn man Dauer der Erstentwicklung, Dauer der Zweitbelichtung, Lichtstärke, Abstand der Lichtquelle, Einfallwinkel des Lichts usw. mißt. 

Statt auf Fotopapier kann man auch auf Filmmaterial in der Originalgröße der späteren Blätter kopieren und es weiter­bearbeiten. Gewöhnlich schabe ich mit der Rasierklinge Linien oder Flächen heraus oder zeichne mit Pinsel und Fettstift hinein, kopiere auf Film um und bearbeite auch diesen wieder. Manchmal verbinde ich Negativ und Positiv ganz oder teilweise oder schneide die Filme auseinander um eine Negativcollage herzustellen. Zuweilen gefällt mir diese besser als das Positiv. Ich kombiniere sie mit Trans­parentfarben und Plexiglas und komme so zu Leucht- und Gegenlichtbildern. 

Was mir der mehr oder weniger gelenkte Zufall gebracht hat, wird überarbeitet. Der Prozeß der Selektion, der Kom­position, der bereits bei der Anfertigung des Grundnegativs begonnen hatte, wird solange fortgesetzt, bis ein Bild entstanden ist.«

Wendlandt betrachtet die Kenntnis der Fototechnik als selbstverständliche Voraussetzung, benutzt sie jedoch nur als Mittel für sehr viele Zwecke. So konfrontiert er sie seit einiger Zeit auch mit den konventionellen malerischen und grafischen Techniken, was auch bereits von der Presse registriert wurde:
» … die Wendlandt-Ausstellung demon­striert auf besondere Weise, daß die künstlerische Aussage mit fototechnischen Mitteln zu einem legitimen Bereich der modernen Kunst geworden ist … « (dpa). 

Scheinbar leicht, ja elegant, meistert Wendlandt die oftmals unüberschaubare Abfolge der technischen Prozesse, in Wirklichkeit aber gehen der endgültigen Fassung eines Bildes lange Versuchsreihen voraus. Wendlandts Arbeit gleicht der eines Regisseurs, der mit der aufwendigen Apparatur von Schnürboden, Drehbühne, Beleuchterstab und auseinanderstrebenden Schauspielerindividuen ein leicht­füßiges Spiel in Szene setzt. Leichtigkeit und Eleganz wer­den jedoch gemeinhin in Deutschland nicht geschätzt. Man möchte auch die Transpiration wahrnehmen, die meist mit der Verwirklichung der Inspiration verbunden ist und glaubt, dann sei » Tiefsinn« gewährleistet. Ist es wirklich so schwer, schwebendes Gleichgewicht als zur Ruhe gekommenen Kampf heterogener Kräfte zu begreifen? (»Mozarts Musik wird allzugern als Rokokogirlande begriffen, das Tragische in ihr allzuleicht überhört. Bach baut sich eine Burg gegen den Schrecken, Händel ein Schloß. Mozart verwandelt die Dunkelheit ringsum in glitzernde Fäden, webt einen Teppich daraus und schwebt auf ihm über alle Abgründe hinweg.«) Zur Musik gibt es mancherlei Beziehungen. Waren doch der Vater Wendlandts und seine beiden Großväter Musiker, ebenso wie Schwiegervater und Onkel. Von Frescobaldi bis Penderecki reicht die Schallplattensammlung. Der Schwer­punkt liegt auf der Kammermusik. 

Wendlandts Lichtgrafiken befinden sich in öffentlichem und privatem Besitz des In- und Auslands; das Kestner-Museum, Hannover, und die Niedersächsische Landesgalerie besitzen allein elf seiner Arbeiten. Die Pressestimmen der Anerken­nung mehren sich: » … eine geistige Durchdringung, die geradezu stilprägend wirkt. « … »Jedenfalls könnte die Licht­grafik die bildenden Künste aus mancher Sackgasse heraus­führen … « (»Petrusblatt«, »Heilbronner Stimme«). »Der alte, letztlich künstliche Zwiespalt von Natur und Geist scheint überwunden … Marshall MacLuhan hat uns vorgepredigt, daß die technischen Hilfsmittel nichts anderes seien als die erweiterten, nach außen projizierten Organe des Menschen.

Hier bewahrheitet sich eine solche Auffassung auf schla­gende Weise. Die Lichtgrafik Wendlandts macht uns im Grunde bewußt, was das Auge – im weitesten Sinne – tat­sächlich vermag. Keine Phantastereien werden ausgespielt. Das zunächst Unsichtbare wird sichtbar gemacht … Inner­halb der von Jean Gebser (Schweizer Kulturphilosoph) an­gestrebten Integrationen haben solche Erfahrungen und Er­gebnisse wie Wendlandts Arbeiten ihren Platz.« (Dr. L. Schauer, – »DIE WELT«- im Katalog des Goethe-Instituts Säo Paulo »Da experiência fototécnica a nova figuração«.) Auf der »Biennale delle Regioni«, Ancona, wurde Wendlandt 1969 die »Medaglia speciale per opere di avanguardia« ver­liehen. Eingeweihte nennen seinen Namen bereits als Ge­heimtip. Ein Teil der Presse schweigt dennoch weiter oder tut seine Bilder als »Labor-Kunst« ab (»Der Tagesspiegel«). Wendlandt erinnert sich: »Nannte Wilhelm II. nicht den Im­pressionismus ,Rinnstein-Kunst,?« Ein Kritiker sah in der Tatsache, daß die Lichtgrafik noch nicht in die bisher be­kannten Techniken einzuordnen ist, einen »neuralgischen Punkt«. Wenn man beobachtet, wie sich die bekannten Gruppen und Stile der modernen Kunst hermetisch von­einander abschließen, darum bemüht, ein auffälliges Etikett für eine Schublade zu finden und sich darin häuslich einzurichten, erhält dieser Klageruf eine besondere Bedeutung. Man hat gelegentlich auch beanstandet, daß Wendlandt heterogene Strukturen mischt, harte, leere Farbflächen neben weiche, subtil ausgearbeitete Detailfelder legt, so daß der Betrachter, je nachdem, welche Partie des Bildes er gerade anschaut, den Abstand verändern möchte. Dazu sagt Kurt Wendlandt: » 1. Das Problem ist nicht neu. Paul Klee interessierte sich schon dafür. 2. Wer als Künstler nicht aus­schließlich einen der in sich verhärteten und aggressiven Einzelbereiche unserer pluralistischen Gesellschaft in seinen Bildern nur widerspiegelt, sondern versucht, die so nötige Integrationsarbeit dadurch ins Blickfeld zu rücken, daß er zusammenbringt, was sich nach einer veralteten und schäd­lichen Meinung bekämpfen müßte, wer also mit Hilfe der Spannung zwischen heterogenen Elementen eine Bewe­gung suggeriert, die zu Grenzüberschreitungen führen könnte, darf sich nicht wundern, wenn der Erfolg nur lang­sam reift.« 

Als ich zurückfahre, ist die Vorortstraße in Dunkel gehüllt. Nur das Wendlandt-Atelier leuchtet, von zwei Dutzend Neonstäben erhellt, eine mit allen Segnungen der Zivilisa­tion ausgestattete »Klause«, eine helle Welt mit offenen Fenstern zur Dunkelheit. 

Das ursprüngliche Künstler-Portrait wurde als Magazin-Artikel hier veröffentlicht:
Reiste, Elma: Schönheit zwischen Dunkelheit und Schrecken. Ein Besuch im Atelier des Lichtgrafikers Kurt Wendlandt. In: profile Nr. 13, Veith-Pirelli AG, Höchst-Sandbach, 1970, S. 96-106

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