Kurt Wendlandt über die Entstehung seiner Lichtgrafik-Serie Verwandlungen in der Fotozeitschrift FOTO PRISMA, 1966
Zuweilen bringt man etwas ganz anderes von einer Reise heim als man erwartet hat, etwas, das in einem Negativ verborgen ist und erst in der Dunkelkammer zum Vorschein kommt, überraschend, voll ungeahnter Möglichkeiten wie der „Mauervogel“ und das „Katzenuntier“ der kleinen Rosa aus lngenio auf Gran Canaria.
Ich hatte das Mädchen fotografiert, wie es zwischen seinen Gefährtinnen stand, die Blumen zum Verkauf in den Händen. Ihr Blick schweifte hinüber zum Nachbarhaus, und während die Freundinnen ihre Blumen an den Mann brachten, lief Rosa zur Mauer hinüber, deutete auf einen malerischen Fleck im bröckelnden Putz und sagte: ,,Sehen Sie den Vogel dort, Señor, und die Katze hinter ihm? Sie will ihn fressen. Machen Sie ein Bild von meinem Vogel, bitte!“ Sie drückte mir die Blumen in die Hand und blickte mich flehend an. Ich erfüllte Rosas Wunsch, obwohl mir die Fantasie des Mädchens reichlich überspannt erschien und ich insgeheim den Verlust des Filmmaterials bedauerte. Es würde mir später bestimmt fehlen. Vielleicht unterblieb das Bild der ganzen Reise: der Gipfel des Teide auf dem benachbarten Teneriffa, majestätisch über Meer und Wolken thronend oder eine Büßergruppe auf dem Fest der „Concepcion de la Virgen“.
Aber als ich mir nach Wochen die Aufnahme des „ Mauervogels“ anschaute, fand ich Rosas Fantasie gar nicht mehr so ausgefallen. Da reckte sich tatsächlich ein Vogelkopf, sträubte sich ein Gefieder, bildete sich ein ornamental gerundetes „Vogelzeichen“, und hinter ihm tauchte schattenhaft ein katzenköpfiges Wesen auf.
Ob Rosa mit einem spitzen Gegenstand und Kreide nachgeholfen hatte, die Gestalten ihrer Fantasie aus der Mauer zu befreien?
Nun hatte auch mich die Dramatik des Mauerflecks gepackt. Zunächst isolierte ich die beiden kontrastierenden Themen durch Freistellung, wandelte sie ab und setzte sie schließlich zueinander in Beziehung. Der Vogel plustert sich selbstbewußt auf (2), erstarrt wie in Angst (3), macht sich gegen die von allen Seiten heranstürmende Unruhe stark (4), wird aber von dem Wesen, das nun feste Gestalt angenommen hat, verschluckt (5). Ein Augenblick der Ruhe, in dem beide Gestalten zu einer neuen verschmelzen und gleichzeitig wieder ein Stück der Mauer sind (6), wird schnell durch die Rückverwandlung in die beiden kontrastierenden Grundformen beendet (7). Ein Kampf beginnt, der sich zu wildem Getümmel steigert (8). Der Vogel taucht wieder auf, der Widersacher ist zerstückelt (9). Der Sieger reckt sich und verwandelt sich in ein doppelköpfiges „Standbild“ (10).
Als ich einen der Filme zusammen mit seinem Positiv kopiert, seitenverkehrt auf ein Duplikat legte und beide Negative gegeneinander verschob, tanzte ein Ballett unheimlich-komischer Fabelwesen und vielarmiger exotischer Götter über die Negativbühne. Die unzähligen Gestalten, die mit Hilfe der Fototechnik aus der Hausmauer auf Gran Canaria herausgeholt und entwickelt werden könnten, würde wohl auch die ,, reichlich überspannte“ Fantasie der kleinen Rosa nicht erfinden können!
Von den bisher entstandenen Verwandlungsphasen kann nur ein kleiner Teil gezeigt werden. Die Fülle der Verwandlungsmöglichkeiten durch Kombination mit anderen fototechnischen Mitteln läßt sich nur ahnen: Gegenüberstellung verschiedener Vergrößerungsstufen; Unschärfe, Tontrennung, Negativ (Mehrfach -) Solarisation, partielle Negativ- Positiv- Kombination, Strich-Linien-Verfahren, Zusammenkopieren mit Strukturnegativen, Geweben oder anderem durchsichtigen Material bis zur optischen Bildzerlegung, kinetische Effekte durch Verschieben des Papiers während des Belichtens oder durch kontinuierliches oder stufenweises Drehen der Blende.
- Ausgangsnegativ, freigestellt, nach Entwicklung Zweitbelichtung teilweise abgedeckt.
- Ausgangsnegativ hart umkopiert, Abdeckform vergrößert, Ränder schartig ausgearbeitet.
- Negativ und Positiv, leicht gegeneinander verschoben. Zweitbelichtung mit unscharf eingestelltem Positiv des Abdeckers.
- Schattenform des Ausgangsnegativs freigestellt, hart umkopiert, zusammen mit in Pinselentwicklung hergestelltem, schwachem Negativ vergrößert. Dann mit Zwischenpositiv zu 2 belichtet.
- Hartes Positiv des freigestellten Ausgangsnegativs auf Reprofilm 50 x 60 cm projiziert. Hintergrund um weiße Form weggeätzt. Überarbeitung mit Fettstift und Schabmesser. Zusammen mit dem ebenfalls auf Reprofilm projizierten, hart umkopierten und überbelichteten Positiv zu 2 in Durchsicht fotografiert.
- Duplikat des Negativs zu 5 (Hintergrund vollends abgeätzt) mit der Schichtseite nach unten unbewegt entwickelt (dadurch Blasenbildung). Mit Positiv kopiert.
Der gedruckte Zeitschriftenartikel:
Wendlandt, Kurt: Verwandlungen fototechnisch. In: FOTO PRISMA, Heft 3, März 1966, Karl Knapp Verlag, Düsseldorf, S. 128-130